B. Karsten: frühmittelalterlichen Grundherrschaft

Cover
Titel
Tätigkeitsfelder und Erfahrungshorizonte des ländlichen Menschen in der frühmittelalterlichen Grundherrschaft (bis ca. 1000).


Herausgeber
Karsten, Brigitte
Reihe
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beihefte 184
Erschienen
Stuttgart 2006: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Dorothee Rippmann

In 18 Aufsätzen knüpfen Historiker und Archäologen an die Arbeitsschwerpunkte des renommierten Bremer Mediävisten Dieter Hägermann an, der unlängst mit einer Biographie Karls des Grossen hervorgetreten ist. Die Beiträge gelten in erster Linie den sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen in der ländlichen Gesellschaft. Mit einem Essay von M. Springer mit dem Titel «War man vor tausend Jahren im Volk verortet?» und einem sorgfältig redigierten Anhang schliesst der Band ab. Er ist in folgende Teile gegliedert: 1. Der verortete Mensch, 2. Der tätige Mensch im säkularen Lebensbereich, 3. Der tätige Mensch im religiösen Lebensbereich und 4. Der Mensch und sein Werkzeug. In den Artikeln stehen denn auch die (einfachen) Menschen der ländlichen Gesellschaft im Zentrum, unter Aspekten der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte sowie der Mentalitätsgeschichte. Leitfragen sind die sozialen Praktiken und die Dimensionen von Handlung und Erfahrung der Menschen – Dimensionen, die sich indirekt etwa in Ortsund Flurnamen niederschlagen (W. Haubrichs). In ihrem Beitrag zur Erfahrung von Raum durch «Illiterate» und zum hochmittelalterlichen Wandel der Kartographie trägt Brigitte Englisch der in der Geschichtswissenschaft aktuellen Raumkulturforschung Rechnung. Sie fragt nach der Interdependenz von tradiertem «gelehrtem» geographischem Wissen und den geographischen Kenntnissen illiterater Händler, Wanderprediger und Bauern.

Hinsichtlich der Entwicklung der Grundherrschaft steht die Frühmittelalter-Forschung unter der Vorgabe des Quellen-Bias: Die überlieferten Texte sind überwiegend klösterlicher Provenienz, und so ist auch in diesem Band von den Abteien Prüm, St. Gallen, Weissenburg und anderen die Rede (J.-P. Devroey, H.-W. Goetz, B. Kasten, G. Jordan, J. U. Büttner, S. Kaschke, K. Elmshäuser). Die gewählten Forschungsansätze sind sowohl akteurszentriert als auch institutionengeschichtlich ausgerichtet. So versucht etwa H.-W. Goetz anhand von St. Galler Schenkungsurkunden Schlüsse auf die Struktur und Organisation weltlicher Grundherrschaften zu ziehen, über die in der Forschung kontroverse Vorstellungen herrschen.

Aus der Fülle der behandelten Themen seien hier wenige herausgegriffen, so die Hinweise auf agrartechnische Innovationen, die Frage nach dem Anteil der verschiedenen Sozialgruppen am Landesausbau, nach der Arbeitsorganisation bis hin zu den logistischen Problemen eines Klosters, das für seine Versorgung mit Nahrungsmitteln und gewerblichen Gütern von den Bauern weiträumige Transportdienste auf den Flüssen und zu Land forderte. Untersucht werden die Handlungsspielräume verschiedener Sozialgruppen bezüglich ihrer berufsständischen Spezialisierung (etwa die gubernatores navis / Schiffsführer, die Maurer oder die Bergleute und fabri argentarii; K. Elmshäuser; A. Hedwig; K.-H. Ludwig), hinsichtlich ihrer Mobilität, ihrer «ehelichen» Verbindungen und ihrer Erbpraxis (J.-P. Devroey) oder auch bezüglich ihrer Schenkungen an die Kirche.

Drei Autoren beschäftigen sich mit dem rechtlichen Status der in der Grundherrschaft lebenden Abhängigen, den Sklaven in der Tradition der Spätantike – oder den Hörigen und Bauern nach der Karolingerzeit, die nun nicht mehr als Sache, sondern zunehmend als Menschen gesehen werden (J.-P. Devroey, M. Parisse, W. Rösener). Mit der Christianisierung und der Annahme oder Ablehnung der christlichen Glaubensbotschaft in der Francia und in Sachsen befassen sich die Beiträge des dritten Teils (C. Nolte, H. Schmidt). Ihre Ergebnisse könnten nicht unterschiedlicher ausfallen. Denn während in der Francia das Christentum zu Beginn der Karolingerzeit längst fest etabliert war, dauerte in Sachsen nach der Christianisierung eine gewisse Konkurrenz zu den alten Hausgöttern fort. Darauf weisen aus der Feder von Kirchenleuten stammende Berichte über weiterhin geübte heidnische Glaubenspraktiken hin. Die von der Kirche propagierten Heiligenkulte wurden als fremdartig wahrgenommen und fanden wie auch die Verehrung des herrscherlichen Christus eher beim Adel als bei der bäuerlichen Bevölkerung Anklang (H. Schmidt).

Archäologische und wirtschaftsgeschichtliche Beiträge erörtern im 4. Teil anhand von Befestigungsanlagen und ersten Kirchenbauten in Hessen die Bauformen und das Vordringen des Steinbaus. U. Recker und M. Schefzik stellen aktuelle Netzwerke wirtschaftsarchäologischer Forschungen vor; ihre Ausführungen deuten auf die bislang defizitäre Zusammenschau von Ergebnissen der historischarchäologischen und naturwissenschaftlichen Einzeldisziplinen und einen erheblichen Forschungsbedarf hin. K.-H. Ludwig erörtert das Problem des im 8. Jahrhundert, nach dem Versiegen früherer Goldzuflüsse vollzogenen Durchbruchs der Silberwährung. Numismatische Forschungen und archäologische Grabungen erhellen die bergbaulichen Voraussetzungen der Edelmetallbeschaffung. Denn in dem auf Münzen genannten Prägeort Metullo / Metalo / Metallum (= Melle im Poitou, F) wurde seit der Merowingerzeit in grösserem Massstab Silberbergbau betrieben (K.-H. Ludwig).

In der Festschrift für Dieter Hägermann werden neben der klassischen Agrargeschichte auch Wege der Mentalitätsgeschichte, der Wirtschafts- und Handwerksgeschichte und der Archäologie beschritten. Im Zentrum stehen die Menschen, ihre Tätigkeiten und ihre Vorstellungswelten.

Zitierweise:
Dorothee Rippmann: Rezension zu: Brigitte Kasten (Hg.): Tätigkeitsfelder und Erfahrungshorizonte des ländlichen Menschen in der frühmittelalterlichen Grundherrschaft (bis ca. 1000). Festschrift für Dieter Hägermann zum 65. Geburtstag (=VSWG-Beihefte 184). Stuttgart, Franz Steiner Verlag, 2006. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 58 Nr. 4, 2008, S. 482-483.